1. Dezember 2023
Obst verbindet: Zu gut für die Tonne

Retten statt Verschwenden

DKAB Magazine Startups Story

Er ist einer, der gern genau hinsieht. Statt in bequemen Fahrwassern zu bleiben und weiterzumachen wie bisher, wagt Erhan Berse einen beruflichen Neuanfang – mit einem zukunftsfähigen Geschäftsmodell. 
Er räumt konsequent auf mit vorgefassten Ideen, Vorstellungen und Denkweisen. Nicht nur, weil er mit über 40 sein Startup gründete. Sein frischer Blick auf eine traditionell geprägte Branche zeigt auch, wie wichtig es ist, nichts als gegeben und unveränderbar hinzunehmen. Offen zu sein für Neues zeichnet den Bielefelder aus und ist die Basis von „Obst-Verbindet“. Um das zu retten, was zu gut für die Tonne ist.

Viele überschüssige Lebensmittel werden bereits gerettet. Meist solche, die in Supermärkten, Bäckereien und bei anderen Händler*innen am Ende der Handelskette übrigbleiben. „Die Arbeit wohltätiger Organisationen ist an dieser Stelle sehr wichtig“, betont Erhan Berse. „Es werden jedoch tonnenweise Lebensmittel entsorgt, die erst gar nicht den Weg in den Einzelhandel schaffen.“ Lebensmittel wertzuschätzen ist ihm ein Anliegen, was er mit „Obst-Verbindet“ in die Tat umsetzt. Die Wegwerf-Mentalität war und ist für ihn Motivation, etwas gegen die Lebensmittelverschwendung zu unternehmen – egal vor welchem Hintergrund sie entsteht. „Es war mein Herzenswunsch, das Konzept von ‚Obst-Verbindet‘ auf den Weg zu bringen“, erklärt Erhan Berse,
der sich über die dynamische Entwicklung des im Juni 2021 gegründeten Startups freut. Inzwischen beschäftigt die WE Fresh GmbH zehn Mitarbeitende. Gülcan Augstein, verantwortlich für Marketing und Kommunikation, ist seit der ersten Stunde mit im Boot. Und sie kennt sich, wie Gründer und Geschäftsführer Erhan Berse, in der Branche aus. 

Lebensmittel retten

Das Bewusstsein für die schnelle Verderblichkeit von frischem Obst und Gemüse begleitet ihn seit Jahren und war für ihn Ansporn, genau hinzusehen und nach neuen Wegen zu suchen. „Natürlich ist es weder das Ziel noch Intention, dass Obst und Gemüse in der Tonne landen, bevor sie jemals den Einzelhandel erreicht haben. Gründe dafür gibt es jedoch viele“, stellt Erhan Berse fest. Mal entsprechen Obst und Gemüse nicht der gewünschten Norm – zu klein oder groß, unförmig oder mit „Schönheitsfehlern“ versehen – oder es gibt andere Faktoren, die die Nachfrage negativ beeinflussen. Von landwirtschaftlicher Überschussproduktion bis hin zum Kaufverhalten der Endverbraucher*innen. Da es in diesem Sommer im Juli viel geregnet hat, wurden beispielsweise längst nicht so viele Melonen gekauft wie bei Sonnenschein, aber die Melonen lagen erntefrisch zum Verkauf bereit. Die Gründe für einen stagnierenden Absatz sind vielfältig. „Und wenn sich kein Abnehmer findet, muss am Ende des Tages schnell entschieden werden, was mit dem Obst und Gemüse passiert“, schildert Erhan Berse die Situation von nicht verkauften Lebensmitteln aus Großmärkten, direkt von Erzeuger*innen oder Produzent*innen.
„Wir retten diese wertvollen Waren aus den unterschiedlichsten Handelsstufen der Lieferkette und führen sie wieder zurück in den Kreislauf.“


Erhan Berse

Nachhaltig und klimafreundlich

25 Jahre Berufserfahrung und ein gewachsenes Netzwerk bilden das Fundament der WE Fresh GmbH. „Das brauchte ich auch, um überhaupt so ein Startup zu gründen. Es ist eine sehr traditionelle und persönliche Branche“, stellt Erhan Berse fest. „Das wäre mit 20 Jahren nicht denkbar gewesen.“ Später zu gründen bringt aus seiner Sicht gleich mehrere Vorteile mit sich. „Man hat aus Fehlern oder Fehlschlägen gelernt und auch die Lebenserfahrung hilft, bessere Entscheidungen zu treffen“, ist Erhan Berse überzeugt. Entscheidender als das Alter sind für ihn jedoch andere Dinge. Weitaus mehr Gewicht haben Individualität, das Timing beim Gründen und vor allem die Idee. Entscheidungsstärke und Durchhaltevermögen bringt der Bielefelder jedenfalls mit. Er weiß, was es heißt, mit Obst und Gemüse zu handeln. 

Online bestellen, selbst abholen

Mittlerweile hat „Obst-Verbindet“ zahlreiche Verteilerstationen aufgebaut, wo Endverbraucher*innen die bestellten Lebensmittel und Waren abholen können. „Auch in der Verteilung wollen wir versuchen, möglichst nachhaltig und klimafreundlich zu agieren“, so der 44-Jährige. Wer im Online-Shop bis zum Vortag der Abholung bestellt, kann die Ware aus dem Retter-Sortiment am nächsten Tag abholen. In Bielefeld selbst gibt es neben der Zentrale am Großmarkt vier weitere Verteilstationen.“ „In Bielefeld gibt es im Harms Markt jetzt auch unseren ersten Retter-Shop“, so Erhan Berse. Dort kann man nicht nur bestellte (Retter-)Kisten abholen, sondern auch spontan vor Ort kaufen.

Rasant gewachsen

Selbst mit anpacken gehört für den Gründer dazu. Die Kisten mit Überschussware hat er anfangs selbst bestückt und sie mit Transportern ausgefahren. „Die Idee kam von Anfang an super an“, erzählt er.
Und auch alle anderen Faktoren passten. Und so sind aus einigen Kisten pro Woche 20.000 Kilogramm Lebensmittel pro Tag geworden. „Bei der rasanten Entwicklung mussten wir schauen, dass wir hinterherkamen“, so Erhan Berse. Längst versorgt „Obst-Verbindet“ nicht nur Bielefelder*innen und die Region OWL mit Obst- und Gemüsekisten. Auch in Hamburg und an der Grenze zu den Niederlanden hat das Bielefelder Unternehmen inzwischen Verteilstationen etabliert. Und das Netz wächst weiter. „Wir wägen jedoch auch im Sinne der Nachhaltigkeit ab, ob sich Touren lohnen. Denn wir wollen – nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen – unsere Touren so planen, dass wir Leerfahrten vermeiden“, unterstreicht Erhan Berse.

Wir retten diese wertvollen Waren aus den unterschiedlichsten Handelsstufen der Lieferkette und führen sie wieder zurück in den Kreislauf.

Erhan Berse

Für einen nachhaltigen Konsum sensibilisieren

Auch andere Lebensmittel – jenseits von Obst und Gemüse – sind bei der WE Fresh GmbH inzwischen in den Fokus gerückt: Saisonware, die es ebenso wie andere Produkte aufgrund von Sortimentsbereinigungen, verändertem Verpackungsdesign, mangelnder Regalfläche oder aufgrund ihres Mindesthaltbarkeitsdatums nicht mehr in den Einzelhandel geschafft hat. „Wir wollen für einen nachhaltigen Konsum sensibilisieren. Dabei kann jeder von uns ein Teil der Lösung sein. Unser Ziel ist es, die Entsorgung wertvoller Lebensmittel zu stoppen und das Bewusstsein für einen nachhaltigen Umgang mit bereits produzierten Lebensmitteln zu schaffen“, sagt der Geschäftsführer. „Unser Konzept beinhaltet ein Stück weit auch einen Bildungsauftrag. Schließlich entstehen allein 60 Prozent der Lebensmittelabfälle in Privathaushalten.“ Fakten zum Thema Lebensmittelrettung trägt das Bielefelder Startup gern in die Welt hinaus. Nicht nur, um Eigenwerbung zu machen. Formate wie „Deutschland rettet Lebensmittel“ dienen auch der Aufklärung. Etwas Renommee darf es dann aber doch sein. Beim Bundeswettbewerb „Zu gut für die Tonne“ holte sich das Bielefelder Startup 2022 für sein Konzept eine Nominierung ab. „Darüber haben wir uns sehr gefreut“, sagt der Gründer. 

Die Wertschätzung, die das Unternehmen den Lebensmitteln entgegenbringt, erstreckt sich übrigens auch auf andere Bereiche. „Wir beschäftigen viele Menschen mit unterschiedlichen Nationalitäten. Chancengleichheit ist für uns ein wichtiges Thema, ganz egal, welcher Herkunft, welchen Geschlechts oder sexueller Orientierung“, unterstreicht Erhan Berse, für den Eigenschaften wie Verantwortung, ein gutes Urteilsvermögen und Toleranz eine wichtige Rolle spielen. „Mitarbeitende aus verschiedenen Kulturen bringen eine Vielfalt an Wissen und Erfahrung mit. Es bringt so viele Vorteile, auf unterschiedliche Kompetenzen zurückgreifen zu können und voneinander zu lernen.“ Und so vertraut das Bielefelder Startup auf die Vielfalt und Kompetenzen, die seine Mitarbeitenden ins Unternehmen einbringen. „So divers wie unsere Gesellschaft ist auch unser Unternehmen“, betont Erhan Berse. Und so rettet „Obst-Verbindet“ nicht nur Lebensmittel, sondern verbindet auch Menschen.

www.obst-verbindet.de 

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