20. September 2022
ZF Friedrichshafen initiierte C2C-Veranstaltung mit Professor Braungart

Wir ändern den Kurs – OWL.zirkulär.zukunftsfähig

Circular Economy Green Stories

Die Zeichen stehen auf Zirkularität. Unternehmen in OWL machen sich auf den Weg, um ihre Produkte kreislauffähig zu gestalten. Das zeigte die Veranstaltung, die auf Initiative des Hauptsponsors ZF Friedrichshafen AG, Werk Bielefeld, im Historischen Saal der VHS in Kooperation mit der Stadt Bielefeld, dem Verein Deutscher Ingenieure LV NRW, dem VDI OWL e.V., CirQuality OWL, InnoZent OWL e.V. und der WEGE mbH stattfand, sehr deutlich. Zu Gast war u. a. Professor Dr. Michael Braungart. Der Pionier des Cradle-to-Cradle-Designkonzepts brachte mit seinem Vortrag neue Impulse in die C2C-Diskussion. 

Oberbürgermeister Pit Clausen skizzierte eingangs die Nachhaltigkeitsstrategie der Stadt Bielefeld. „Sie sehen, wir haben die Dinge schon immer im Kreislauf gehalten und aus einer Flachsspinnerei aus dem 19. Jahrhundert eine Volkshochschule gemacht“, schmunzelt Pit Clausen, bevor er die drei Leitlinien der Strategie aufzählt: Bielefeld soll eine lebenswerte Stadt sein, eine Stadt mit starker Bildung und eine Stadt der Wirtschaft. „Wir verstehen uns als Netzwerker und Impulsgeber“, sagt der OB mit Blick auf Projekte wie zum Beispiel ÖkoProfit, mit dem Betriebe in ihren Bemühungen zu mehr Nachhaltigkeit unterstützt werden. 2035 will Bielefeld die Klimaneutralität erreicht haben – ein enormer Zeitdruck vor dem Hintergrund der eher knappen finanziellen Mittel.

Best-Practice-Beispiele

Frau David (VDI), Herr Nagel (Tana), Herr Prof. Braungart, Frau Reher (Stadt Bielefeld), Herr Witthöft (Standortleiter ZF Bielefeld), Herr Appel (Direktor und geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des VDI)

Die Reinigungsmittel von Frosch der Werner & Merz Gruppe kennt eigentlich jedes Kind. Alexander Nagel von der Tana Chemie GmbH, die Professional-Sparte der Unternehmensgruppe, berichtet vom eigenen C2C-Ansatz: Vermeiden, reduzieren und mit deutlichem Abstand kompensieren. Die Kompensation von verursachten Emissionen erscheint dem Anwendungstechniker die schlechtmöglichste Lösung. Man habe nur begrenzt Kontrolle über die Umsetzung der Klimaprojekte und seiner Ansicht nach verhindere die Kompensation die eingehende Beschäftigung mit dem Thema. Die Tana Chemie geht andere Wege, schließt die biologischen und technischen Kreisläufe. Fast alle Produkte der Tana Chemie sind C2C-zertifiziert – sowohl, was die Inhaltsstoffen anbelangt als auch die Verpackung. 

Für Jörg Witthöft, Leiter des Standortes Bielefeld der ZF Friedrichshafen AG, ist C2C ganz klar ein Innovationstreiber. ZF ist weltweit der drittgrößte Automobilzulieferer und zählt zu den global führenden Unternehmen auf dem Gebiet der Antriebs- und Fahrwerktechnik. In der ZF-Welt, die AG hat insgesamt 157.549 Mitarbeitende und erzielte 2021 einem Umsatz von 38,3 Milliarden Euro bei einem Forschungsinvest von 3,1 Milliarden Euro, kommt dem Werk in Bielefeld eine besondere Bedeutung zu: Es ist von den 25 Aufarbeitungsstandorten in 15 Ländern das größte. „Täglich werden 40 bis 50 Tonnen Altteile angeliefert. Etwa im Jahr das Gewicht des Eiffelturms.“, berichtet der Senior Manager. „Für die einen ist das Schrott, für uns sind das unsere Rohstoffe.“ In Bielefeld werden Kupplungsteile für Lkw und Drehmomentwandler für Pkw aufgearbeitet. Die Anfänge gehen auf das Jahr 1963 zurück, 2017 erfolgte die erste C2C-Zertifizierung. Ein Jahr später verlieh die Stadt Bielefeld dem Unternehmen den Umweltpreis. 2018 hatte ZF auch auf Ökostrom umgestellt. 2022 erhielten die Bielefelder den Deutschen Preis für Nachhaltigkeitsprojekte.

Die Aufarbeitung erfolgt ohne Schreddern oder Umformung. „Bis zu 98 Prozent aller Bauteile können wir bei einer NKW-Kupplung wieder aufbereiten, die restlichen 2 Prozent recyceln wir“, erzählt Jörg Witthöft. Die Materialeinsparung bewegt sich zwischen 70 und 90 Prozent, die Energieeinsparung liegt bei bis zu 90 Prozent und es werden rund 80 Prozent CO2 eingespart. Im Vergleich zu einem neuen Produkt erleben die aufgearbeiteten Produkte bis zu vier Lebenszyklen. „Wir wollen alle Produkte C2C-zertifizieren lassen – 80 Prozent haben wir schon geschafft“, so Jörg Witthöft. Und alle zwei Jahre steht eine Rezertifizierung an. Dabei hat die Bielefelder Niederlassung keine eigene Abteilung für Nachhaltigkeit. „Wir sind ohne Blaupause gestartet und haben einfach gemacht. Wir wollten uns auch gern mit Unternehmen aus anderen Branchen in Hinblick auf Zirkularität messen“, sagt Jörg Witthöft, der sich sichtlich über das nachhaltige Engagement seiner Mitarbeitenden freut.

Effektivität statt Effizienz

Mit Spannung wurde der Vortrag von Professor Dr. Michael Braungart erwartet, der bereits 2015 bei einer ähnlichen Veranstaltung in Bielefeld das Publikum mit seinem C2C-Ansatz aufgerüttelt hatte. Er gilt als Pionier des Cradle to Cradle-Designkonzepts und lehrt an der Leuphana Universität Lüneburg. Zudem ist er Gründer von EPEA Internationale Umweltforschung in Hamburg, der Wiege von Cradle to Cradle, Mitbegründer und wissenschaftlicher Leiter von McDonough Braungart Design Chemistry (MBDC) in Charlottesville, Virginia (USA) sowie Gründer und wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Umweltinstituts (HUI).

Auch an diesem Abend fordert Prof. Michael Braungart die Unternehmen und die Stadt Bielefeld auf, die Anstrengungen zu verstärken: Nicht Klimaneutralität sollte das Ziel sein, sondern klimapositiv zu sein. „Ein Baum ist klimapositiv“, sagt er. „Wenn Sie neutral sind, existieren Sie nicht.“ Vermeiden und reduzieren bedeute lediglich, dass etwas weniger schädlich ist. Die Umwelt wird nur ein bisschen weniger zerstört. „Das ist, als würde ich mein Kind nur fünf Mal und nicht zehn Mal am Tag schlagen“, nennt er ein eindrückliches Beispiel. Nicht die Effizienz, sondern die Effektivität gilt es zu steigern. Dazu braucht es von Anfang an die richtigen Produkte. Viele Kunststoffe seien beispielsweise nicht für das Recycling geeignet. „Wir brauchen Kunststoffe, mit denen das geht, sonst perfektionieren wir das Falsche“, betont der Universitätsprofessor.

Innovation, Qualität und Schönheit

Mit Blick auf die Gletscherschmelze und der Perspektive, dass mit voranschreitender Umweltzerstörung halb Europa eine Steppe sein wird, hält er das 1,5-Grad-Ziel für albern. „Das Ziel muss es sein, dass wir 2100 wieder den Gehalt an CO2 in der Atmosphäre haben wie um 1900.“ Wir brauchen Produkte, die innovativ sind und durch Qualität und Schönheit überzeugen.“ Dazu gehört, dass in zehn Jahren nur noch Plastik verwendet wird, das aus der Atmosphäre geholt wird. Die Nachhaltigkeitsabteilungen der Firmen müssen zu Innovationsabteilungen werden, um Produkte zu entwickeln, die biologisch nützlich sind.

Prof. Michael Braungart zählt beispielhaft Bereiche auf, in denen innovatives Denken gefragt ist. Zum Beispiel beim Mikroplastik in Meeren und anderen Gewässern, das unter anderem vom Abrieb von Textilien, Reifen und Schuhen stammt. „Autoreifen halten doppelt so lange wie noch vor dreißig Jahren“, berichtet der C2C-Pionier. Aber früher blieb der Staub auf der Straße, jetzt landet er in den Gewässern. Wenn man das Falsche perfekt macht, macht man das perfekt falsch.“

Oder das Thema saubere Luft: Durch die Feinstaubbelastung verkürzt sich die Lebenserwartung um fünf Jahre. „Wir müssen Gebäude bauen, die die Luft reinigen und etwas dafür tun, dass andere Lebewesen dort auch leben können. Die Ausgangsfrage ist: Was ist gesunde Luft. Und dann können wir CO2 einsparen“, so sein Ansatz. Die Luft in Gebäuden ist vielfach schlechter als draußen. Bereits 1984 hat Prof. Michael Braungart die Gesundheitsschädlichkeit von PVC-Weichmachern nachgewiesen. Erst vor fünf Jahren erfolgte ein gesetzliches Verbot – aber lediglich für Kinderspielzeug, nicht für Bodenbeläge.

Rethink, Reinvest, Redesign

Beim Thema Abfall weist Professor Braungart darauf hin, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das Müll produziert. „Es gibt mehr Ameisen als Menschen auf der Welt. Ihre Nährstoffe sind nützlich, sie erhalten den Regenwald. Wir brauchen eine Art von bio, bei dem unsere Nährstoffe sinnvoll eingebettet werden können. Wenn man im ländlichen China zum Essen eingeladen wird, gilt es als unhöflich, wenn man geht, ohne zuvor die Toilette aufgesucht zu haben. Die Nährstoffe sollen vor Ort bleiben. Bei uns ist das Thema Fäkalienverwertung tabu.“

Mit Blick auf die Corona-Pandemie stellt er fest, dass die drei Milliarden FFP2-Masken, die produziert wurden, nicht nur gnadenlos überteuert verkauft wurden, sondern auch in 300 Jahren noch nicht abgebaut sind. Dass es anders geht, hat Prof. Michael Braungart mit Holy Shit, der „Cradle to Cradle“-Beratung der Leuphana Universität Lüneburg, unter Beweis gestellt und die vollständig biologisch abbaubare, bei 90 Grad mehrfach waschbare und recyclingfähige VivaMask entwickelt. Alle eingesetzten Materialien sind umwelt- und hautverträglich. Es werden keine Bleichmittel, toxischen Farben oder schädlichen Chemikalien verwendet. Es ging hierbei nicht um den wirtschaftlichen Erfolg. „Wir haben zumindest fünf chinesische Maskenhersteller inspiriert, kompostierbare Produkte herzustellen“, stellt der wissenschaftliche Leiter des Hamburger Umweltinstituts fest. Rethink, Reinvest, Redesign ist das Credo.

Das gilt auch für Mobiltelefone, die 41 chemische Elemente enthalten, von denen lediglich 9 recycelbar sind. Auch Buntmetalle und dabei vor allem Kupfer müssten stärker einer Wiederverwertbarkeit zugeführt werden. BMW habe angekündigt, 2025 das erste C2C-Auto vorzustellen. Bislang wurde noch nie aus einem alten Auto ein neues gebaut. „Wir wissen, was zu tun ist, aber wir sind zu langsam“, unterstreicht Prof. Michael Braungart die Dringlichkeit. „Wir müssen schnell unsere Geschäftsmodelle ändern.“

Neue Modelle

Erfolgversprechende Beispiele gibt es bereits: Die Firma DESSO AirMaster® hat feinstaubbindende Teppichböden entwickelt, die im Rathaus von Venlo die Luft verbessern. Der Krankenstand der Bediensteten sank um 20 Prozent. Miele setzt mit einem neuen Geschäftsmodell auf Miet- anstelle von Kaufgeräten. Die Upgreat-Modelle – zum Beispiel Waschmaschine, Geschirrspüler, Herd, Backofen, Kaffeevollautomat und Staubsauger – werden zu einem monatlichen Festpreis gemietet und nach Ablauf des Vertrags gereinigt und umfassend überholt. Oder die Containerschiffe der Triple-E-Klasse der dänischen Reederei Mærsk Line. Sie zählen zu den weltweit größten Schiffen ihrer Art und haben sich den Maximen „Economy of scale“, „Energy efficient“ und „Environmentally improved“ verschrieben. In Zusammenarbeit mit Trigema hat Prof. Michael Braungart ein kompostierbares T-Shirt entwickelt, das sich gut verkauft.

Der Universitätsprofessor vertritt den Ansatz, dass Unternehmen einige ihrer Produkte nicht mehr verkaufen, sondern als Dienstleistung anbieten sollten. Niemand solle mehr eine PV-Anlage kaufen müssen, sondern nur eine definierte Nutzungszeit. Die Hersteller würden qualitativ hochwertigere Materialien verwenden, weil sie ein Interesse daran haben, dass ihre Produkte einwandfrei funktionieren und die Kundschaft zufrieden ist. Durch die definierte Nutzungszeit weiß der Hersteller, wann sein Produkt zurückkommt, und kann die Wiederverwendung und/oder Aufbereitung der verbauten Elemente vorab planen. „Das bedeutet: Ich kaufe keinen Schreibtischstuhl mehr, sondern eine gesunde Sitzversicherung. Die Geschäftsmodelle müssen so konzipiert sein, dass der Kunde zurückkommt.“

Zum Abschluss seines inspirierenden Vortrags richtet er einen Appell an die Stadt Bielefeld: Sagen Sie nicht, wir werden klimaneutral. Sagen Sie: Wir werden C2C-Stadt. Bielefeld hat so viel Potenzial. Hier wurde Greenpeace gegründet – und nicht in Hamburg. Ich habe die Menschen in dieser Stadt so erlebt, dass sie auch das tun, was sie versprechen. Mit Schurken können Sie Altes optimieren, für Neues brauchen Sie Verlässlichkeit und Vertrauen.“ Und an die Adresse der Unternehmen gerichtet: „Warten Sie nicht auf den Staat, tun Sie etwas!“

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