30. September 2025

Werte – Als Kompass für die Zukunft

Das aktuelle Buch der aus Bielefeld stammenden Politökonomin und Transformationsexpertin Maja Göpel heißt „Werte. Ein Kompass für die Zukunft“. Im Interview erklärt sie, wie wir mit Werten Mut zum Handeln finden, wie das praktisch funktioniert und warum es wichtig ist, sich einzubringen.

Frau Göpel, in Ihrem aktuellen Buch beschreiben Sie, dass Sie die Stimmung auf der Werteskala in Deutschland und Teilen Europas noch nie so mies erlebt haben. Wer bzw. was vermiest die Stimmung wie noch nie? 

Na, zum einen ist die Großwetterlage seit einigen Jahren sehr krisengebeutelt, angefangen mit Corona, dann der russische Angriff auf die Ukraine und inzwischen offene Provokationen in europäischen Ländern, die Energiekrise und Preissteigerungen und nun sind die USA als wichtigster europäischer Partner in die Hände der Autokraten gefallen. Da China damit auch noch deutlicher seine Vormachtstellung ausbauen will, gerät der Exportmeister Deutschland auch wirtschaftlich unter Druck. Insgesamt ist das natürlich harter Tobak. Nur: anstatt die Situation sachlich und in Ruhe einzuordnen und Handlungsoptionen zu suchen, wird von populistischer Seite der Ton eskaliert, möglichst heftige Zahlen aus dem Kontext gerissen und inszeniert und ganz viel Schuld gesucht. Das schlägt sich natürlich auf die Stimmung nieder – weshalb Befragungen in der Bevölkerung auch zeigen, dass insbesondere Personen, die der AfD folgen, besonders schlecht drauf sind und besonders große Zukunftsangst habe. Die wiederum lässt sich dann wunderbar politisch instrumentalisieren.

Zugewinne rechtspopulistischer Parteien, die Wiederwahl Donald Trumps oder Wut und Hass, die immer „normaler“ erscheinen – wie können wir mithilfe von Werten den Mut schöpfen, dem etwas entgegenzusetzen?

Ein Zugang über Werte erlaubt uns, erst einmal die Gemeinsamkeiten wiederzuentdecken. Denn in Ruhe nachgefragt, wünschen sich Menschen ja ganz ähnliche Dinge vom guten Leben. Dann ist aber der wichtige nächste Schritt, sich auch darüber auszutauschen, wie gesellschaftliche Verhältnisse und Rahmenbedingungen aussehen, die mit diesen Werten kongruent, also übereinstimmend erscheinen. Und auch da sehen wir immer wieder: Wenn sich die befragten Personen direkt begegnen, Zugang zu Informationen und Zeit für Diskussionen haben, sind ihre Vorschläge weitreichender als das, was in „der Politik“ als anschlussfähig erscheint. Bürgerräte sind da faszinierende Beispiele und ein wichtiges Korrektiv gegen parteipolitisch bornierte Behauptungen, dass etwas „nicht geht“ oder „keine Mehrheiten“ findet. 

Sie beschreiben Werte, die wir zum Beispiel im Grundgesetz oder in der Nachhaltigkeitsstrategie verabredet haben, wie eine Art leitenden „Nordstern“. Wie funktioniert es praktisch, mit ihnen bessere Lösungen zu finden, Regeln des Miteinanders zu gestalten und wertvolle Ergebnisse zu erzielen?

Im Prinzip wie bei jeder Projektplanung auch. Sie sind ja vereinbarte Ziele, ob es nun qualitativ gesicherte Umgangsformen sind oder Ergebnisse, die von einer Nation verabschiedet wurden. Dann ist der nächste Schritt die Suche nach den besten Mitteln zum Zweck, also eine wirkungsorientierte Bestandsaufnahme, ob die aktuellen Spielregeln, Anreize und Standards aus der Politik denn auch Handlungen oder Alltagsentscheidungen begünstigen, die auf die Zielerreichung einzahlen. Funktioniert das, finden die vielen kleinen Entscheidungen einer freien Gesellschaft in ein dynamisches Zusammenspiel: Forschung und Wissenschaft informieren Bildung und Medien, und damit Bürgerinnen und professionelle Weltveränderer wie Ingenieure und Start-up-Initiativen. Investoren werden neugierig auf bessere Lösungen und darüber wird dann wieder berichtet, und es wird leichter für die Politik, eine weitere Veränderung der Rahmenbedingungen vorzunehmen, damit mehr von diesem Fortschritt wahrscheinlich wird. Steuern und lenken diese Rahmenbedingungen aber systematisch an den Zielen vorbei oder blockieren Erneuerungen, dann ist es für einzelne Akteure sehr schwer, dauerhaft gegen den Strom zu schwimmen.  

Welchen Wert hat die Art, wie wir leben – mit unserer Demokratie, der sozialen Marktwirtschaft und den Gestaltungsmöglichkeiten mit gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Instrumenten – mit Blick auf eine gerechte Zukunft und die Entwicklung des Wohlstands?

Die Wohlstands- und Lebensqualitätsforschung ist da sehr deutlich: Es geht nicht nur darum, dass wir materiell ausreichend Güter und Dienstleistungen zur Verfügung haben, sondern die Art und Weise, wie wir den Umgang miteinander organisieren, ob wir gesund sind, verlässliche Beziehungen haben, uns sicher fühlen und Teilhabe spüren, also einen Beitrag leisten dürfen – all das sind zentrale Zutaten für ein gutes Leben und dürfen aus meiner Sicht noch viel stärker in der Debatte über unseren „Wohlstandsverlust“ aufscheinen. Immerhin zeigen diese Erkenntnisse uns, dass wir gar nicht planetenzerstörende Massen an Zeug haben müssen, um glücklich zusammenleben zu können. Im Gegenteil, viel der heutigen miesen Stimmung und Zukunftsangst hat ja damit zu tun, dass wir Sorge haben, dass es a) nicht mehr genug an Ressourcen geben wird; b) diese nicht mehr ausreichend geteilt werden; und c) darüber nicht offen gesprochen wird, sondern die Einflussreichen sich lieber große Stücke sichern.

Sie untermauern auch die Notwendigkeit, das Verständnis von Wohlstand gemeinsam neu auszuhandeln. Warum ist das Miteinander, in der das „Ich“ oft wichtiger zu sein scheint als das „Wir“, dabei so entscheidend?

Im Endeffekt stehen wir vor einer einzigen großen Verteilungsfrage. Das große Versprechen nach zwei Weltkriegen war, dass eine Weltgemeinschaft sich zum Ziel setzt, Zusammenarbeit und Entwicklung so zu organisieren, dass für alle Menschen ausreichend gute Versorgung möglich wird. Nie wieder Krieg war auch die Motivation hinter der EU. Dafür muss ich aber auch in der Lage sein, Trends wieder zu korrigieren, wenn sie dazu führen, dass die noch höhere Versorgung von Einigen nur noch über Armbleiben oder Abwerten von Vielen zu organisieren ist – weil der Planet nun mal physische Grenzen hat und auch die Ökosystemdienstleistungen durch diesen seltsam normalisierten Konsumwahn immer mehr unter Druck geraten. Die Globalen Gemeingüter – ob es nun natürliche Kreisläufe sind, die wir geerbt haben, oder zivile Problemlösungen, die wir erarbeitet haben – werden wir nur über Kooperation sichern. Und dann alle von dem Ergebnis profitieren. Das Wir ist also einem zufriedenen Ich immer vorangestellt.

Sie machen Mut, die Zukunftsgestaltung nicht den Lautesten und Egoistischen zu überlassen, sondern politisch Haltung einzunehmen, verbindende Werte sichtbar zu machen und Veränderung zu gestalten. Gilt das im Privaten genauso wie für Unternehmen? 

Unbedingt. Komplexe Systeme wie unsere Gesellschaften sind immer aus unterschiedlichen Einheiten zusammengesetzt und je nachdem, welche Kultur und Umgangsformen sich an diesen vielen unterschiedlichen Orten etablieren, umso leichter oder schwerer wird eine frei motivierte Zusammenarbeit und die Überzeugung, mit anderen an einem Strang zu ziehen. Wie oft hören wir das: Ich würde ja noch viel mehr tun, wenn ich wüsste, dass die anderen auch mitziehen. Das sagen meist um die 70 Prozent, also eine gesunde Mehrheit. Nur, dass wir uns durch die in Stänkern und Misstrauen ertrinkenden öffentlichen Diskursräume gar nicht mehr vorstellen können, dass diese Haltung noch so weit verbreitet ist. Die Soziologie nennt das „Pluralistische Ignoranz“ oder „Gruppenblindheit“, auch die Schweigespirale ist ein in diesem Zusammenhang beobachtetes Phänomen: Glaube ich, dass meine Überzeugungen und Meinungen von denen der Mehrheit abweichen, werde ich eher stiller und bringe mich weniger ein. Werde ich dann noch für jedes Einbringen ordentlich beschimpft, nimmt die Spirale ihren Lauf. Deshalb sind die Algorithmen hinter den „asozialen“ Medien auch so schädlich: Sie belohnen das Pöbeln und die Tabubrüche, weil diese mehr Reaktionen auslösen.  

Eine persönliche Frage: Gibt es Werte, die Sie in Ihrer Kindheit und Jugend in Bielefeld verinnerlicht haben und die Sie bis heute als Ihr „persönlicher Nordstern“ leiten? 

Bei mir stehen Ehrlichkeit und Gerechtigkeit ganz oben, wahrscheinlich bin ich deshalb Wissenschaftlerin geworden – ich nutze diese Erkenntnisse dann aber auch als Mittel gegen Machtspiele.