14. Oktober 2025

Klimabilanzierung in der Praxis – Herausforderungen, Lösungen und Prüfanforderungen

„Eine perfekte Klimabilanz habe ich noch nie gesehen“, sagte Marleen Vollriede mit einem Schmunzeln – und wollte damit nicht abschrecken, sondern Mut machen. In ihrem Vortrag zur Klimabilanzierung in der Praxis im Rahmen der Green Innovation Weeks von DAS KOMMT AUS BIELEFELD zeigte die Projektmanagerin Klima & Dekarbonisierung der DEKRA Assurance Services daher nicht nur die Herausforderungen auf, die Unternehmen erwarten. Sie wies auch auf konkrete Lösungen hin, stellte die Prüfanforderungen und die nächsten Schritte im Klimamanagement vor.

Die Klimabilanzierung hat sich in den vergangenen Jahren rasant von einer freiwilligen Kür zu einem festen Bestandteil unternehmerischer Praxis entwickelt. „Die Klimabilanz ist längst kein freiwilliges Projekt mehr. Sie entscheidet auch durch ESG-Ratings mit über Kapitalmarktzugang, Wettbewerbsfähigkeit und Reputation“, macht sie deutlich. Die Klimabilanz bildet daher die Grundlage eines wirkungsvollen Klimamanagements. Denn nur wer den eigenen CO₂-Fußabdruck kennt, kann zielgerichtet Reduktionsmaßnahmen planen und Fortschritte messen.

Politischer Einfluss und ökonomischer Druck

Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Politische Vorgaben wie die CSRD oder die EU-Taxonomie setzen neue Standards in puncto Transparenz. Hinzu kommt der ökonomische Druck, denn immer mehr Banken verknüpfen ihre Kreditkonditionen mit Nachhaltigkeitsleistungen. „Die Klimabilanz ist Teil des Risikomanagements und zeigt Unternehmen die Übergangsrisiken für die Zukunft auf. Gleichzeitig legen immer mehr junge Mitarbeitende Wert darauf, dass ein Unternehmen sich nachhaltig aufstellt“, erklärt Marleen Vollriede. Das heißt: Mitarbeitende wie Kunden schauen genauer hin, ob Unternehmen glaubwürdig Verantwortung übernehmen. Und so verhilft eine Klimabilanz zu mehr Transparenz, schafft Vertrauen nach außen und ermöglicht Wettbewerbsvorteile

Ökologische Dringlichkeit

Die ökologische Dimension verschärft die Dringlichkeit zusätzlich. Das Überschreiten der planetaren Grenzen zeigt, dass die Menschheit inzwischen sieben von neun Belastungslinien verletzt hat, darunter den Klimawandel und die Versauerung der Ozeane. „Klimawandel ist eines der Risiken, mit denen wir uns bisher noch am wenigsten beschäftigt haben, am wenigsten vorbereitet sind“, betont Marleen Vollriede. Für sie eine unmissverständliche Warnung: „Wenn wir nicht rechtzeitig handeln, zahlen wir doppelt: ökologisch und ökonomisch.“

Wenn wir nicht rechtzeitig handeln, zahlen wir doppelt: ökologisch und ökonomisch.

Bereits der Globale Risikobericht des World Economic Forums 2023 weist umweltbezogene Risiken mit Blick auf das globale BIP als zentrale Gefahren aus. Studien des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung prognostizieren – als Folgen der Erderwärmung – globale Einkommensverluste von bis zu 20 Prozent bis 2050, selbst wenn die Treibhausgasemissionen (THG-Emissionen) drastisch reduziert werden. 

Stolpersteine in der Praxis

Doch so klar die Notwendigkeit einer Klimabilanz ist, so steinig ist ihr Weg in der Praxis. Unternehmen sehen sich mit erheblichen Hürden konfrontiert: Daten fehlen, liegen in unterschiedlichen Formaten vor oder sind von fragwürdiger Qualität. Die Kommunikation mit Lieferanten gestaltet sich schwierig, während globale Lieferketten zusätzliche Komplexität schaffen.

Doch die Identifikation von Emissionsquellen und Hotspots bilden die Grundlage für eine wirksame Dekarbonisierungsstrategie und konkrete Klimaschutzmaßnahmen. Nur auf dieser Basis lassen sich sowohl Chancen als auch Übergangsrisiken managen. Gleichzeitig liefert die Klimabilanz Kennzahlen, mit denen sich Performance und Fortschritte im Klimamanagement messen lassen.

Scope 1 bis 3 im Überblick

„Durch die Kategorisierung der Emissionsquellen entsprechend des GHG-Protocols lassen sich die Emissionen von Scope 1 bis 3 einordnen“, macht Marleen Vollriede deutlich. Direkte Emissionen aus der eigenen Geschäftstätigkeit – die sogenannten Scope-1-Emissionen – oder indirekte Emissionen aus der Erzeugung eingekaufter Energie wie Strom oder Fernwärme, also Scope 2, lassen sich noch vergleichsweise gut erfassen. Besonders herausfordernd ist jedoch Scope 3, die Kategorie der indirekten Emissionen entlang der Wertschöpfungskette. „Scope 3 ist oft ein schwarzes Loch – aber es macht den größten Teil der Emissionen aus“, fasst Marleen Vollriede zusammen. Hinzu kommen organisatorische und kommunikative Hürden, unklare Verantwortlichkeiten und Zielkonflikte innerhalb der Unternehmen, die den Prozess verlangsamen. Auch Zeit- und Kostenaufwand sind beträchtlich, ebenso wie die methodischen Herausforderungen bei der Auswahl von Standards und Emissionsfaktoren.

Pragmatismus statt Perfektion

Doch wie können Unternehmen diesen Stolpersteinen begegnen? Marleen Vollriede plädiert für einen pragmatischen Ansatz, ebenso wie für standardisierte Prozesse für die Datenerfassung. Ihrer Erfahrung nach ist es jedoch entscheidend, nicht mit dem Anspruch an Perfektion zu starten, sondern erste Schritte zu gehen und die Datenlage Jahr für Jahr zu verbessern. „Gerade im ersten Jahr sollten Unternehmen nicht erwarten, dass sie eine perfekte Bilanz vorlegen. Viel wichtiger ist, dass sie beginnen und ihre Datenlage kontinuierlich optimieren.“ Sie empfiehlt sich an vergleichbaren Prozessen, wie es sie beispielsweise in der Finanzbuchhaltung seit Jahrzehnten gibt, zu orientieren, um Kennzahlen und andere Informationen zu sammeln.

Gerade im ersten Jahr sollten Unternehmen nicht erwarten, dass sie eine perfekte Bilanz vorlegen. Viel wichtiger ist, dass sie beginnen und ihre Datenlage kontinuierlich optimieren.

Dabei ist es sinnvoll, zunächst die leichter zugänglichen Bereiche Scope 1 und 2 zu bilanzieren, um schnelle Ergebnisse zu erzielen. Erst dann sollten Unternehmen damit beginnen, Scope 3 gemäß Wesentlichkeitsanalyse schrittweise auszubauen. Grundlage sind die Prinzipien des GHG-Protocols: Relevanz, Vollständigkeit, Konsistenz, Genauigkeit und Transparenz. Marleen Vollriede ermutigt dazu, Annahmen und Hochrechnungen nicht zu scheuen, solange sie plausibel und dokumentiert sind. Diverse kostenlose und kostenpflichtige Datenbanken stellen übrigens Emissionsfaktoren zur Berechnung der Treibhausgasemissionen zur Verfügung (kostenlose u. a. DEFRA, GEMIS, Bilan Carbone; kostenpflichtig ecoinvent).

Kommunikation nach innen und außen

Ein weiterer zentraler Punkt ist die Kommunikation. Intern geht es darum, Mitarbeitende mitzunehmen, Verantwortlichkeiten zu klären und Bewusstsein zu schaffen. Extern ist Transparenz ein Schlüssel für Glaubwürdigkeit. Über bestehende Unsicherheiten offen zu sprechen, ist für Marleen Vollriede ein wesentlicher Aspekt. „Es ist besser, ehrlich über Datenlücken zu informieren, als so zu tun, als sei alles perfekt. Transparenz erhöht die Glaubwürdigkeit“, erklärt sie.

Prüfung und Verifizierung

Spätestens wenn es um die Prüfung der Bilanz geht, zeigt sich, wie wichtig strukturierte Prozesse und eine sorgfältige Dokumentation sind. „Dokumentieren Sie, wie die Datenerfassung in Ihrem Unternehmen abläuft“, rät Marleen Vollriede. „Schreiben Sie auf, wer wann mit welchem Stichtag die Informationen einsammelt. Das ist wichtig, um die Konsistenz zu wahren und die Bilanzjahre operativ und organisatorisch gut abgrenzen zu können.“ Externe Verifizierungen durch unabhängige Gutachter*innen oder Zertifizierungsstellen prüfen nicht nur die Berechnungsmethodik, sondern auch die Nachvollziehbarkeit der Daten.

„Die Prüfenden wollen einen klaren Audit Trail sehen – von der Tankkarte oder Rechnung bis zur finalen Zahl in der Bilanz“, beschreibt sie beispielhaft den korrekten Ansatz und warnt vor möglichen Fehlerquellen. Die lauern häufig in Form falscher Einheiten: Ob Megawatt oder Kilowattstunde macht einen großen Unterschied. Außerdem sollten möglichst spezifische Emissionsfaktoren in die Bilanz einfließen. Und wer Annahmen und Hochrechnungen nutzt, sollte diese nachvollziehbar begründen und dokumentieren, um später keine Beanstandungen zu riskieren. Zumal häufig ein Plausibilitätscheck mit der Vorjahresbilanz erfolgt. Eine erfolgreiche Verifizierung steigert nicht nur die Glaubwürdigkeit, sondern dient auch als Ausgangspunkt für Ratings wie das Carbon Disclosure Project und als solides Fundament für Dekarbonisierungsstrategien.

Klimabilanz – ein kontinuierlicher Prozess

Entscheidender ist für Marleen Vollriede dagegen, dass Unternehmen beginnen, Stolpersteine zu überwinden und sich kontinuierlich zu verbessern. Ihr Appell an Führungskräfte lautet daher, Scope 3 nicht zu unterschätzen, Verantwortlichkeiten klar zu regeln, Daten sorgfältig zu prüfen und nicht zu viele Kategorien gleichzeitig anzugehen. „Klimabilanzierung ist kein Projekt, das man einmal abhakt, sondern ein fortlaufender Prozess, der kontinuierlich weiterentwickelt werden muss“, betont sie. „Denn Klimabilanzierung ist die Grundlage für wirksamen Klimaschutz im Unternehmen – und damit für eine nachhaltige Zukunft.“